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Was sagt Bill Hybels seinen Kritikern? Ein idea-Interview (2012)

Von: ADVENT VERLAG Datum Beitrag: 30.01.2012 Kommentare: Keine Kommentare Tags:

(“Adventisten heute”-Aktuell, 29.1.2012) Worauf kommt es an, damit eine Gemeinde wächst? Und was sagt er seinen Kritikern? Mit Bill Hybels sprach idea-Redakteur Karsten Huhn.

idea:

Herr Hybels, seit 16 Jahren ist die Willow-Creek-Bewegung im deutschsprachigen Europa aktiv. Was haben Sie in dieser Zeit bewirkt?

Bill Hybels:

Es liegt bei Gott, dies zu entscheiden. Ich denke, dass wir viele Gemeindeleiter inspiriert, ausgebildet, herausgefordert und gestärkt haben.

Die Mitgliederzahl der Kirchen in Deutschland hat weiter abgenommen – selbst in Freikirchen wie den Methodisten oder den Baptisten. Was hält die deutschen Kirchen vom Wachsen ab? Deutschland und viele andere Länder der Welt erleben eine Säkularisierung. Aber das entmutigt mich nicht! Mit der richtigen Vision, Leiterschaft und Botschaft kann dieser Trend umgekehrt werden.

An welche Leiterschaft und Botschaft denken Sie? Gute Leiterschaft ist dienstorientiert, demütig, aufrichtig, ebenso klar, vorausschauend und teamorientiert. Gute Leiter lösen Probleme, stellen sich Herausforderungen und streben danach, das volle Potenzial ihrer Gemeinde freizusetzen. Und die Botschaft? Das ist seit 2.000 Jahren unverändert das Evangelium, das wir kreativ und freundlich verkündigen sollten. Die Frage, wie wir die Botschaft verkünden, ist sehr entscheidend dafür, wie Menschen sie annehmen.

Haben die Gemeinden in Deutschland und der Schweiz darin Fortschritte gemacht, seit Willow Creek Schulungen anbietet? Sicherlich! Dafür gibt es zahlreiche Hinweise. Wir erhalten viele positive Rückmeldungen von Pastoren und sind dadurch sehr ermutigt, diesen Dienst fortzusetzen. Wir bieten Hilfe an, aber jede Gemeinde entscheidet selbst, wie sie unsere Erfahrungen auf ihre Situation anwendet.

Der große Unterschied

Das US-amerikanische Magazin “Christianity today” (“Christenheit heute”) schreibt über den Unterschied zwischen Willow Creek und der Situation in Deutschland: “Willow Creek ist konservativ in der Theologie und liberal im Ausdruck und damit das exakte Gegenteil zum vorherrschenden Protestantismus in Deutschland. Bei liberalen Protestanten wird das Evangelium als etwas Geheimnisvolles und Komplexes behandelt. Populistische evangelistische Botschaften und Methoden weisen sie entschieden zurück.” “Christianity Today” kann das besser beurteilen als ich, und vermutlich handelt es sich um eine kluge Aussage. Ich verbringe nur jedes zweite Jahr drei Tage in Deutschland. Ich bin also kein Experte für die deutsche Kirchenkultur oder Kirchengeschichte. Jedes Mal, wenn ich in Deutschland spreche, sage ich zu Beginn: “Ich bin hier als Lernender und als Dienender.”

Dennoch sollen Ihre Erfahrungen auch für Deutschland hilfreich sein. Ich bilde in 80 Ländern Gemeindeleiter aus, denn es gibt biblische Wahrheiten über Leiterschaft, die in allen Kulturen gültig sind. Zugleich erinnere ich meine Zuhörer aber immer daran, dass ich mein ganzes Leben nur in einer Kirche gearbeitet habe – und das ist die Willow-Creek-Gemeinde in Chicago, Illinois. Wenn mich jemand fragt: “Was weißt du über unsere Situation?”, antworte ich: “Wahrscheinlich nicht viel, aber ich weiß einiges über Willow Creek.” Darüber hinaus mache ich keine Ansprüche geltend.

Das Beste geben

In Ihren Predigten fordern Sie “die totale Hingabe für ein christuszentriertes Leben”. Was verstehen Sie darunter? Gott hat für uns Menschen sein absolut Bestes gegeben, als er seinen Sohn Jesus Christus für unsere Erlösung opferte. Dann ist es nach meiner Auffassung vernünftig, wenn auch wir unser Bestes für Gott geben. Jesus Christus sagt: “Sucht zuerst nach dem Königreich Gottes” und “Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen”. Wer sich Gott zu 95 Prozent hingibt, gibt 5 Prozent zu wenig. Geheimnis, Abenteuer und Freude des christlichen Glaubens kann nur erfahren, wer sich wirklich vollständig Gott hingibt.

Wie motivieren Sie Ihre Mitglieder, diesen Schritt tatsächlich zu gehen? Indem ich es lehre und selbst lebe. Ich versuche, dem Vorbild Jesu Christi zu folgen, indem ich anderen selbst ein Vorbild bin und ein integres Leben führe.

Wie wachse ich geistlich?

Vor vier Jahren brachte Willow Creek eine Studie heraus. Die Ergebnisse “brachten meine Welt ins Wanken”, sagten Sie damals. Die Studie stellte einige unserer bisherigen Annahmen infrage. Wir dachten, dass einige unserer Dienste und Programme weit effektiver seien, als sie tatsächlich waren. Andere Bereiche waren unglaublich wirksam. Das für uns wichtigste Ergebnis: Das entscheidende Merkmal, um vorauszusagen, ob jemand geistlich wächst, sind nicht Predigten, Dienste oder besondere Veranstaltungen, sondern, ob jemand die Bibel liest und sich zu täglichen geistlichen Disziplinen verpflichtet …

… also betet … … das bedeutet weit mehr als Gebet! Es bedeutet Gebet, Dienstbereitschaft, Sündenbekenntnis, Unterordnung, Anbetung – also all die Dinge, die Dallas Willard in “Das Geheimnis des geistlichen Wachstums” beschrieb und die seit Jesu Zeiten Gültigkeit haben. Entscheidend ist, dass die Kirche jedem Einzelnen beibringt, wie er für sein geistliches Leben selbst Verantwortung übernimmt und die geistlichen Disziplinen zu einem Teil seines Lebens macht. In vielen Gemeinden besteht die Tendenz, dass der Pastor sagt: “Komm, und ich werde dich geistlich nähren.” Dadurch kann die Einstellung entstehen, dass man, um ein guter Christ zu sein, zu einem Gebäude kommt, eine Stunde in einem Stuhl sitzt und dem Pastor zuhört. Unsere Studie hat jedoch mit blendender Klarheit gezeigt, dass es weit mehr braucht.

… und das Ergebnis

Haben die Mitglieder Ihrer Gemeinde seitdem mehr Eigenverantwortung übernommen? Wir haben die Studie seitdem dreimal wiederholt und dramatische Verbesserungen festgestellt. Das führt zu mehr geistlicher Gesundheit, zu Stabilität und Stärke in schwierigen Zeiten, zu größerem Vertrauen zu Gott, zu mehr Dienstbereitschaft und zu mehr evangelistischer Aktivität.

Der Pastor ist also nicht für das geistliche Wachstum der Gemeinde verantwortlich? Der Pastor ist für die geistliche Nahrung verantwortlich, wenn die Gemeinde zusammenkommt. Ich sage den Gottesdienstbesuchern aber immer: Ich kann die Bibel nicht für euch lesen, ich kann nicht an eurer Stelle beten, ich kann nicht die Sünden für euch bekennen – das alles müsst ihr bis zum nächsten Gottesdienst selbst tun. Wenn wir dann wieder zusammenkommen, können wir wieder zusammen die Bibel lesen, beten, unsere Sünden bekennen und auf Gottes Wort hören. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen 18 Jahre alten Sohn. Er sitzt an Ihrem Tisch und sagt: “Füttere mich!” Werden Sie ihn füttern oder werden Sie sagen: “Ernähre dich selbst!”? Wer sich die ganze Woche zurücklehnt und nur darauf wartet, beim nächsten Gottesdienst vom Pastor geistlich genährt zu werden, wird die Schlacht verlieren!

Vor drei Jahren verlagerte Ihre Gemeinde den Schwerpunkt von “Gottesdiensten für Suchende” zu einem Gottesdienst, der erfahrenen Christen helfen soll, geistlich zu wachsen. Das ist nicht wahr! Das ist eines der großen Missverständnisse, die über unsere Gemeinde im Umlauf sind.

Die 4 Gruppen in jeder Gemeinde

Sie können mich gerne korrigieren. Gerne! Unserer Studie zufolge gibt es vier Gruppen in jeder Gemeinde: 1. Menschen, die den Glauben gerade entdecken, 2. Menschen, die im Glauben wachsen, 3. Menschen mit einer engen Beziehung zu Christus, 4. Menschen, für die Jesus Christus der Lebensmittelpunkt ist. Unsere Gottesdienste richten sich an alle vier Gruppen. Wir arbeiten sehr hart daran, dass sie für alle gleichermaßen relevant sind.

Willow Creek bietet also immer noch “Gottesdienste für Suchende”? Wir sind geradezu versessen, Suchende zu erreichen!

Sie sind versessen? Wir führen so viele Menschen zu Christus wie noch nie in der Geschichte unserer Kirche! Vergangenes Jahr feierten wir fast 1.500 Taufen! Wir sind vollständig darauf ausgerichtet, unsere Freunde und Familienmitglieder, die fern von Gott sind, mit der Botschaft von Jesus Christus zu erreichen. Natürlich haben wir in den letzten Jahren unsere Methoden verändert, aber unsere evangelistische Leidenschaft bleibt unverändert.

Neuer Schwerpunkt: Einsatz für soziale Gerechtigkeit!

In den letzten Jahren hat sich bei Willow Creek der Schwerpunkt auf den Einsatz für soziale Gerechtigkeit verlagert. Es ist wunderbar, das zu beobachten – ich kann daran nichts kritisieren. Wir suchen nach Möglichkeiten, Armut zu lindern und Ungerechtigkeiten zu beseitigen – auch das sind Folgen von mehr geistlicher Eigenverantwortung in unserer Gemeinde. Wer geistlich wächst, dessen Herz wird dem Herzen Gottes ähnlicher – und Gottes Herz sorgt sich um Ungerechtigkeit.

Herr Hybels, sind Sie bereit für ein paar typische Beschwerden über Willow Creek? Warum wollen Sie das tun?

Es wäre eine gute Gelegenheit für Sie, Vorurteile zu entkräften. Gut, lassen Sie es uns versuchen.

Eine beliebte Kritik lautet: Die Botschaft von Willow Creek ist so schlicht, dass sie auch auf einen Bierdeckel passen würde. Man muss zwischen Klarheit und zu starker Vereinfachung unterscheiden. Leiter müssen in der Lage sein, die Vision für ihre Kirche auf einem T-Shirt klarzumachen. Die Vision auf einen einzigen, gut zu merkenden Satz herunterzubrechen, ist eine sehr komplexe und komplizierte Aufgabe!

Welches Credo würden Sie auf Ihr T-Shirt drucken? Bekehre Nicht-Christen zu völlig hingegebenen Nachfolgern Christi.

Das ist eine knallharte Aussage. Das ist der Missionsbefehl! “Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern … und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe”, sagt Jesus Christus seinen Jüngern in Matthäus 28,19-20. Ich denke, diese Marschordnung gilt auch für uns.

Eine Gemeinde mit einem 31-Millionen-Euro-Etat

Der Vorwurf lautet: Ihre Gemeinde richte sich zu sehr nach Marketinggesichtspunkten und zu wenig nach der Bibel. Unsere Gemeinde hat ein 40-Millionen-Dollar (31-Millionen-Euro)-Budget, aber in unserem Haushaltsplan gibt es nicht eine Zeile für Marketing. Wir geben Millionen Dollar für die biblische Ausbildung unserer Gemeinde aus, aber wir leisten uns keinen Direktor für Marketing. Diese Kritik ist also leicht zurückzuweisen.

“Der Spiegel” bezeichnet die Willow-Creek-Gemeinde als “einen Wellness-Tempel mit Unterhaltungsprogramm”. Die sollten einfach mal vorbeikommen und sich umschauen, denn offensichtlich haben sie das bisher noch nicht getan. Solche Kritik ist für mich Zeitverschwendung.

Ist die Zeit der Megagemeinden bald vorbei?

Der Chefredakteur des evangelikalen “Leadership”-Magazins, Skye Jethani, rechnet damit, dass die nächsten 10 bis 15 Jahre für US-amerikanische Megagemeinden kritisch werden. Er fragt: “Wann wird die Blase platzen?” Ich teile diese Bedenken!

Leben wie die Urgemeinde

Aber Ihre Gemeinde ist eine Megagemeinde! Seit 36 Jahren war meine Vorstellung immer eine Gemeinde nach dem Vorbild von Apostelgeschichte 2 – aber keine Megagemeinde. Die Tatsache, dass unsere Gemeinde sehr groß geworden ist, ist Gottes Angelegenheit. Unsere Konzentration lag immer darauf, so zu leben wie die Urgemeinde im ersten Jahrhundert: “Sie hielten beharrlich an der Lehre der Apostel fest, an der geschwisterlichen Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den gemeinsamen Gebeten” (Apostelgeschichte 2,42ff.). Wer eine Megagemeinde bauen will, anstatt sich auf den Gemeindebau nach dem Vorbild von Apostelgeschichte 2 zu konzentrieren, wird im Desaster enden.

Wenn ich abstürzen sollte …

Und wie steht es um die Suche nach einem Nachfolger für Sie? Das ist eine berechtigte Sorge!

Vor drei Jahren war die Einführung eines Nachfolgers für Sie bereits einmal gescheitert. Ich halte das für keine angemessene Beschreibung. Mein Punkt ist ein anderer: Ein Pastor baut einen Dienst auf, der Gott ehrt, und es wird schließlich schwer, diesen Pastor zu ersetzen – soll man diesen Pastor deshalb aufhalten? Bei Billy Graham sagten die Leute: “Es wird nie wieder einen Billy Graham geben” – und da war Billy Graham gerade mal 40 Jahre alt und arbeitete noch mehrere Jahrzehnte. Sollen Leiter ihre Nachfolge regeln? Ja! Soll man ihren Einfluss beschneiden aus Angst, dass es sonst keinen Nachfolger geben wird? Das wäre lächerlich!

Wie wollen Sie einen Nachfolger finden, der in Ihre Schuhe passt? Ich glaube, dass es bessere Leiter als mich gibt und dass Gott Willow Creek nicht aufgeben wird, wenn ich bei einem Flugzeugabsturz sterben sollte. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Kirche nach mir noch größere Höhen erreichen wird als mit mir.

Was ist das Geheimnis für das Wachstum Ihrer Gemeinde? Es gibt kein Geheimnis.

Auch keine Erklärung? Nicht einmal eine überzeugende Erklärung. Wir versuchen eine Gemeinde gemäß Apostelgeschichte 2 zu sein, und Gott hat uns seine Gunst gegeben – die Gründe dafür sind mir nicht bekannt.

Steht der “Kunde” an 1. Stelle?

Das britische Nachrichtenmagazin “The Economist” schreibt: “Willow Creek basiert auf dem gleichen Prinzip wie alle erfolgreichen Unternehmen: Der Kunde steht an erster Stelle … Die Betonung der Kundenbetreuung produziert ein vorhersagbares Resultat: Wachstum.” Jesus hat Menschen gedient – und das versuchen wir auch. Wir dienen armen Menschen, zerbrochenen Menschen, geschiedenen Menschen, wir versuchen allen zu dienen. Wenn sie darauf positiv reagieren, machen wir weiter bei ihren Verwandten und Freunden. Sie sind ein Schatz, geschaffen als Ebenbild Gottes, und es ist für uns eine Ehre, ihnen zu dienen.

“Der Kunde steht an erster Stelle” wäre also eine Erklärung? Für uns sind die Menschen keine Kunden, und sie stehen für uns auch nicht an erster Stelle. Zuerst kommt Christus.

Wird das Kreuz versteckt?

Eines der Merkmale, die Willow Creek von anderen Gemeinden unterscheidet, ist das Fehlen des Kreuzes im Gemeindehaus. Warum verstecken Sie das Kreuz? Wir haben das Kreuz nie versteckt! Wir predigen das Kreuz, und wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Menschen zum Kreuz zu führen. Wir verzichten jedoch auf jegliche religiöse Symbole in unserer Kirche: Wir haben weder einen Altar, noch Kerzen noch ein Kreuz. Wir tun einfach das, was der Apostel Paulus forderte: Wir predigen Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen – das ist das Zentrum unserer Botschaft. (idea)

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